Evolution der Führung
Die Strategie der Evolution zeigt eine klare Entwicklung von egoistischen Einzellern zu nicht minder egoistischen Zellverbänden (Vielzeller), bei denen sich die erfolgreichste Form des Zusammenlebens durch Spezialisierung und Arbeitsteilung von Zellen ergeben hat. Die ersten Zellverbände mussten dabei eines rasch lernen: ihr aggressives Überlebensprogramm zu kontrollieren, das darin bestand, grundsätzlich alles Fremde zu bekämpfen. Darüber hinaus stieg mit der Anzahl der Zellen eines Organismus auch der Bedarf an Koordination und Kommunikation.
Dabei gab es keine „Chef-Zelle“, die diese Aufgabe hätte lösen können: Es scheint vielmehr die Wechselwirkung, also die Kooperation einzelner spezialisierter Zellen gewesen zu sein, die das Funktionieren eines vielzelligen Organismus erfolgreich gemacht haben. Optimiert wurden dabei nicht nur die Fähigkeiten der einzelnen Zelltypen, sondern – und vor allem – die Fähigkeit der Zellgemeinschaften zur wechselseitigen Rückkoppelung:
Eine einzelne Zelle bekommt Rückmeldung über die Auswirkung ihres Tuns auf den Gesamtorganismus und wird dadurch in ihrer Aktivität rückkoppelnd reguliert. Sie weiß sozusagen, ob ihr Beitrag noch im Sinne des gemeinsamen Ziels ist. Der optimale Zustand des Organismus, die sogenannte Homöostase, ergibt sich durch Anpassung der Regelkreise an die wechselnden Anforderungen der Umgebung. Durch dieses Prinzip konnte auf Hierarchien und den damit verbundenen Nachteil (der Abhängigkeit vieler Zellen vom Funktionieren einiger weniger) verzichtet werden. Die zwei wichtigsten Prinzipien des gemeinsamen Handelns auf zellulärer Ebene sind demnach Spezialisierung und Rückkoppelung.
Aus vielzelligen Einzelkämpfern entstanden schließlich die ersten Kolonien und anonymen Verbände vom Typ „Fischschwarm“. Die Strategie der ersten Gemeinschaften vielzelliger Lebewesen folgte demselben Prinzip, das auch bei der Entstehung vielzelliger Organismen erfolgreich war, und hatte primär einen weiteren offensichtlichen Vorteil: Auf der einen Seite sinkt die Gefahr für den Einzelnen, gefressen zu werden, in der Masse dramatisch. Auf der anderen Seite steigt die Wahrscheinlichkeit zur erfolgreichen Fortpflanzung beträchtlich.
Betrachten wir das Schwarmverhalten genauer, erkennen wir zwei weitere Prinzipien gemeinsamen Handelns: Zusammenhalt und Distanzkontrolle. Fische „messen“ permanent den Abstand zum Nachbarn und wollen diesen einhalten. Schwimmt der Nachbar auffällig hektisch in eine Richtung, wird sofort nachgeschwommen; kommt der Nächste zu nahe, wird die automatische Distanzkontrolle wirksam – und zwar die des ganzen Schwarms. In einem Schwarm gibt es keinen erkennbaren „Chef“. Anführer ist kurzfristig jener Fisch, der sich gerade bedroht fühlt und sichtbar für die direkten Nachbarn seine Richtung ändert, die sich dann wellenartig in den ganzen Schwarm fortsetzt. Bei Fischen entscheidet das Verhalten eines einzigen Fischs über eine Änderung des Schwarmverhaltens; bei Vögeln, wie beispielsweise Tauben, ist das Verhalten von bis zu sieben Schwarmmitgliedern entscheidend.
Situationsabhängig steuert dieses Überlebensprogramm auch nach wie vor uns Menschen: Massenphänomene, wie sie immer wieder bei Großveranstaltung sichtbar werden, sind dadurch gut erklärbar. Eine Besonderheit komplexerer Lebensformen ist die Ausbildung klarer Hierarchien innerhalb einer arbeitsteiligen Gemeinschaft. Stabile Hierarchien innerhalb einer Gruppe von Lebewesen sind in Form zweier Varianten sozialer Gemeinschaften entstanden: Bei einem Typ werden Rang und Privilegien stabil genetisch vererbt (soziale Insekten wie Bienen und Ameisen gehören dazu), beim anderen Typ werden diese Vorrechte durch Streit und Prügelei ständig neu erkämpft. Unsere Form entspricht definitiv der dynamischen „Prügel-Variante“.
Zu jenem Zeitpunkt, als unsere direkten Säugetier-Vorfahren organisierte Herden bildeten, um das chaotische Treiben anonymer Verbände zielgerichteter zu gestalten, differenzierten sich zwei Rollen innerhalb der Gruppe: Anführer und Geführter. Soziale Gemeinschaften hatten ein Rückkoppelungsproblem, das auf zellulärer Ebene noch sehr simpel durch direkte, chemische, elektrische oder gasförmige Feedbackschleifen gelöst werden konnte. Für soziale Lebewesen hingegen, die nun untereinander in Wechselwirkung treten mussten, war ein grundsätzliches Problem zu lösen: Einzelne Gruppenmitglieder mussten reagieren und agieren, obwohl sie sich selbst eigentlich gerade im Gleichgewichtszustand befanden und keinen persönlichen und unmittelbaren Anlass zur Energieinvestitionen hatten. Im Sinne der Gemeinschaft zu handeln bedeutete also in gewissem Sinne, primär „gegen die eigene Biologie“ agieren zu können und Energie für den gemeinsamen langfristigen Vorteil zu investieren. Dazu bedurfte es grundlegender Umstellungen in der Verhaltensregulation des Einzelnen:
Der individuelle Gleichgewichtszustand, quasi die Zufriedenheit des Einzelnen, musste durch kollektive Unruhe und Unzufriedenheit anderer Gruppenmitglieder gestört werden können und möglichst rasch zu einer Verhaltensanpassung im Sinne der Gemeinschaft führen. Damit eine Gemeinschaft von Säugetieren überleben konnte, gab es also Bedarf an Arbeits- und Aufgabenteilung. Darüber hinaus musste koordiniert und kommuniziert werden, damit Chaos verhindert und eine gewisse Stabilität hergestellt werden konnte. Es musste aber auch allgemein akzeptiert werden, wem welche Aufgabe zugewiesen wurden und wer das bunte Treiben koordinierte. Über- und Unterordnung, Anführer und Geführter, Rangordnung und Privilegien sind die Konsequenzen der Herausforderungen, denen sich unsere Vorfahren stellen mussten.
Die neu entwickelten Eigenschaften unseres „sozialen Gehirns“ waren dazu die notwendigen Voraussetzungen: A. Alle Gruppenmitglieder mussten wiedererkannt werden können: Dazu war ein (Langzeit-) Gedächtnis notwendig. B. Freund und Feind innerhalb und außerhalb der Gruppe mussten genau unterschieden werden können: Die Bindungsfähigkeit lässt uns empfinden, wer im Ernstfall auf unserer Seite kämpfen würde. C. In der Gruppe mussten wir Empathie entwickeln, um andere verstehen und deren Absichten vorhersehen zu können. Durch den „Zwang“ zur Beobachtung und „Spiegelung“ der Körpersprache und des Verhaltens anderer Herdenmitglieder wurde der Zustand anderer im eigenen Körper abgebildet und konnte auf diese Weise auch nachempfunden werden.
So kam es also zu einer komplexen sozialen Synchronisation unabhängiger Organismen. Seit dieser Zeit produziert beispielsweise unser Schmerzzentrum Schmerzsignale, wenn wir jemanden beobachten, der Schmerzen hat; wir beruhigen uns, wenn wir entspannte Menschen sehen, und es wächst unser Muskel, wenn wir jemanden beobachten, der vor unseren Augen Kniebeugen macht. Wie körperlich tiefgreifend diese neue Form der Wechselwirkung unabhängiger Individuen ist, war eine der spannendsten wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte. (Aber Achtung: Glauben Sie jetzt nicht, dass Sie durch Beobachtung hantelstemmender Fitnesssportler zum Kraftprotz werden: Wissenschaftlich signifikante Veränderungen in Ihrer Muskelstruktur bedeuten noch nicht, dass man Ihnen das auch von außen ansieht, oder Sie davon gesundheitlich profitieren.)
Quelle: AFNB Akademie für neurowissenschaftliches Bildungsmanagement
0 Kommentare